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41. Der Laderaum

 

Seemann

Lucy ließ den Blick über das Deck der Cerys wandern. Zu ihrer Überraschung sah alles ganz normal aus, wenn man einmal von etwas verschütteter Farbe absah, in die sie dummerweise getreten war. Sie bückte sich, um ihre schleifenden Schuhbänder aus der Pampe zu ziehen, die zu ihrem Ärger an ihren Fingern kleben blieb und ... huch. Lucy wollte schreien, doch eine muffige Hand hielt ihr den Mund zu.

»Pst, Lucy. Nicht schreien. Bitte!«, zischte Wolfsjunge.

»Da... da... das ist Blut«, stammelte sie unter seiner schmutzigen Hand.

»Ja«, brummte Wolfsjunge. »Hier gibt es jede Menge. Und es wird noch mehr fließen, wenn sie uns finden.« Er deutete mit seinem freien Daumen in Richtung Bug, und Lucy begriff, dass das Deck doch nicht so verlassen war, wie sie gedacht hatte. Auf einer großen freien Fläche vor dem mittleren Mast konnte sie drei Gestalten ausmachen, die im Schein einer Laterne versuchten, den Frachtraumkran zu bedienen. Sie hatten die Neuankömmlinge an Bord nicht bemerkt – und wenn es nach Wolfsjunge ging, sollte es dabei auch bleiben. Langsam und geräuschlos zog er Lucy hinter ein umgedrehtes Ruderboot.

»Nicht schreien, klar?«, flüsterte er.

Lucy nickte, und Wolfsjunge nahm die Hand weg.

Das umgedrehte Boot lag auf der dunklen Seite des Decks, die von der Lichtsphäre nicht beleuchtet wurde. Lucy schlüpfte dahinter.

»Ach, da seid ihr alle«, flüsterte sie säuerlich. »Ihr hättet auch auf mich warten können.«

»Wir dachten, du kommst gar nicht mit«, antwortete Septimus, dem es lieber gewesen wäre, sie wäre unten geblieben.

Wie ein neugieriges Erdmännchen streckte Lucy plötzlich den Kopf über das Boot und schaute sich aufgeregt um. »So ... und was tun wir jetzt?«, flüsterte sie erwartungsvoll, als wären sie bei einem Picknick und müssten entscheiden, was für ein Spiel sie spielen wollten.

Jenna riss ärgerlich an Lucys kostbarem – und sehr fleckigem – blauen Mantel. Lucy blickte empört, nahm aber ohne ein Wort Platz. Jenna wandte sich an Septimus und Wolfsjunge.

»Ihr seid die Fachleute«, sagte sie. »Sagt uns, was wir tun sollen, und wir tun es.«

Fünf Minuten später hatten sie einen Plan. Sie teilten sich in zwei Gruppen auf. Die eine wurde von Wolfsjunge angeführt, die andere – die nur aus einer Person, nämlich Jenna, bestand – von Septimus. Wolfsjunge hatte mit Lucy zwar den Kürzeren gezogen, sagte sich aber, dass Beetle das wettmachte. Es wurde beschlossen, dass die beiden Gruppen in einer Zangenbewegung, die selbst die Crowe-Zwillinge beeindruckt hätte, vorrücken sollten. Wolfsjunges Trupp sollte auf der dunklen Backbordseite bleiben, Septimus mit Jenna auf der ungeschützteren Steuerbordseite, die von der Lichtsphäre angestrahlt wurde. Sobald sie am Laderaum angekommen waren, sollten alle ihren Unsichtbarkeitszauber aktivieren. An diesem Punkt hatte Lucy protestiert. Das sei ungerecht: Alle hätten einen Unsichtbarkeitszauber, nur sie nicht.

Aber Septimus wollte jetzt nicht versuchen, Lucy Gringe einen Unsichtbarkeitszauber beizubringen, auch wenn er Beetle soeben einen sehr einfachen beigebracht hatte – und hoffentlich auch mit Erfolg.

»Hör zu«, flüsterte Jenna. »Beetle und ich werden unseren auch nicht benutzen, einverstanden? Dann bist du nicht die Einzige.«

»Na gut«, willigte Lucy zähneknirschend ein.

Um zu den laternenbeschienenen Gestalten zu gelangen, mussten sie sich durch ein Gewirr von Tauwerk und herabgestürzten Segeln hindurchschlängeln und über Blutspuren steigen, die nichts Gutes ahnen ließen. Während sie sich Zentimeter für Zentimeter vorarbeiteten, hielt die beklemmende Stille an – das einzige Geräusch war das Quietschen des Hebekrans, den Jenna zuletzt beim Schließen der Laderaumluke im Einsatz gesehen hatte. Im Hafentrubel war ihr das Geräusch gar nicht aufgefallen, doch jetzt, in der Stille der Nacht, ging ihr das Quietschen der Kurbel, mit der man den Kran bewegte, durch Mark und Bein. Zum Glück übertönte es auch den spitzen Schrei, den Lucy von sich gab, als sie auf etwas trat, was sie für eine abgetrennte Hand hielt – und was sich dann als Handschuh entpuppte, wie man ihn beim Hantieren mit Tauen trug.

Septimus und Wolfsjunge krochen stetig voran und wandten dabei kein Auge von der Szene, sie sich vor ihnen abspielte. Septimus spürte, dass Kapitän Fry nervös war. Ungeduldig gab er den Crowes, die gerade versuchten, den Kran in die richtige Position über der Ladeluke zu schwenken, Anweisungen, doch alle paar Sekunden warf er einen kurzen Blick über das Deck. Jedes Mal wenn er es tat, erstarrten die heranschleichenden Angreifer. Und sobald er sich wieder den schwitzenden Crowes und dem quietschenden Kran zuwandte, setzten sie sich von Neuem in Bewegung, glitten lautlos von einem Knäuel Taue zu einem Rettungsboot, vom Ankerspill zu einem Lukendeckel, bis sie schließlich den Frachtraum erreichten.

Wolfsjunges Gruppe schlüpfte hinter ein paar Fässer, und Septimus und Jenna fanden hinter einem hastig eingeholten Segel Deckung. Von beiden Seiten des Decks machten sie sich ein Bild der Lage. Septimus reckte einen Daumen in die Luft, und Wolfsjunge erwiderte das Zeichen. Sie waren zum Losschlagen bereit. Sie zählten lautlos bis drei, dann huschten sie aufs Deck und begannen gleichzeitig mit ihrem Unsichtbarkeitszauber, damit sie einander noch sehen konnten.

Kapitän Fry schnupperte wie ein misstrauischer Hund, und seine linke Augenbraue begann zu zucken. Er wusste, was das bedeutete.

»Stoppt den Kran«, brüllte er den Crowes zu. Quietschend kam der Kran über den Lukendeckeln des Laderaums zum Stehen.

Kapitän Fry horchte angestrengt. Alles, was er hörte, war das Schwappen der Wellen weit unten – die Flut hatte eingesetzt, und das Wasser tastete sich zur Cerys zurück. Dieses Geräusch sagte Kapitän Fry, dass er sich sputen musste. Doch seine Augenbraue zuckte wie eine Raupe, die in Eile war, und das gefiel ihm nicht. Er bevorzugte schwarze Magie, und nicht nur weil sie seine Braue nicht zum Zucken brachte, sondern weil man mit schwarzer Magie die Dinge tun konnte, die er gerne tat.

Kapitän Fry ließ argwöhnisch die Augen über das Deck wandern. Er vermutete, dass ein Mitglied der Besatzung einen Unsichtbarkeitszauber benutzt hatte, um der Gefangennahme zu entgehen. Die Cerys war ein nobles Schiff – entschieden zu nobel für seinen Geschmack –, und es hätte ihn nicht überrascht, wenn unter den Seeleuten eine Art Hobbyzauberer gewesen wäre. Er persönlich verachtete Unsichtbarkeitszauber. Wenn man nicht wollte, dass einen jemand sah, räumte man ihn aus dem Weg – das war wirkungsvoller und machte außerdem mehr Spaß.

Aber Kapitän Fry kannte ein paar Tricks, und er konnte sich rühmen, einige der besten Zauberer überlistet zu haben. Er ging zu dem Kran hinüber, tat so, als wolle er ihn inspizieren – und wirbelte urplötzlich herum. Aber er sah nichts Verdächtiges. Er war verwirrt. Nach seiner Erfahrung reagierte jeder, der sich unsichtbar gemacht hatte, so, als sei er noch sichtbar, und rannte in Deckung. Als Seemann, der es gewohnt war, stundenlang das Meer zu beobachten, war Kapitän Fry ein Meister darin, Unsichtbare, die sich bewegten, zu entlarven, denn Bewegungen führten immer zu gewissen Verwirbelungen in der Luft. Doch er konnte nichts entdecken, denn Wolfsjunge und Septimus standen stocksteif da, getreu dem Jungarmee-Motto: »Wer bleibt stehen, bleibt ungesehen.« Kapitän Fry starrte in die Dunkelheit, drehte ruckartig wie eine Taube den Kopf von einer Seite auf die andere (ein weiterer Trick von ihm) und hätte Septimus um ein Haar enttarnt, weil der beinahe einen Lachkrampf bekommen hätte.

Aber Kapitän Frys Braue zuckte noch immer. Er beschloss, einen einfachen Test durchzuführen. Ganz unvermittelt begann er, wie wild zu tanzen, im Zickzack zu hüpfen und die Arme wie Windmühlenflügel kreisen zu lassen. Diese ausgefallene Methode zum Aufspüren von Unsichtbaren war überraschend wirkungsvoll – Wolfsjunge und Septimus konnten dem Skipper nur um Haaresbreite ausweichen. Wolfsjunge berührte er sogar leicht, da Wolfsjunge aber gerade dabei war, hinter den Hauptmast zu hüpfen, hielt Kapitän Fry seinen Ellbogen irrtümlich für ein verknotetes Tau.

Septimus zog ernsthaft einen Rückzug in Erwägung, als die Windmühlenimitation ihren Tanz abrupt einstellte – Kapitän Fry hatte bemerkt, dass die Crowe-Zwillinge sich gegenseitig Zeichen machten, mit denen sie zu verstehen gaben, dass der Skipper nicht mehr ganz richtig im Kopf sei. Damit trafen sie bei ihm einen wunden Punkt.

»Verflucht kalt hier«, sagte er, räusperte sich und stampfte mit den Füßen, als friere er. »Tempo, ihr Nichtsnutze.« Die Crowes grinsten spöttisch und rührten keinen Finger. Darauf zog Kapitän Fry sein Entermesser aus der Scheide und trat auf Thin Crowe zu. »Tu, was dir gesagt wird, sonst säble ich dir den Kopf von deinem dürren Hühnerhals«, knurrte er. »Und dir auch, Fettsack.«

Die Crowes gingen mit frischer Begeisterung ans Werk.

Immer noch beunruhigt wegen seiner linken Augenbraue, behielt der Skipper misstrauisch das Deck im Auge, während er den Crowes Anweisungen gab. Fat Crowe bekam den Haken am Ende des Krans zu fassen, zog ihn herunter und hängte ihn in den Ring ein, der in der Mitte der Steuerbordluke angebracht war.

»Halt!«, brüllte Kapitän Fry. »Hast du nur Pudding im Kopf oder was? Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Luke erst öffnen, wenn ich die Worte gesprochen habe.« Er fasste in die Tasche und zog den zerknitterten Zettel mit dem Zauberspruch heraus. »Hol mir die Laterne, Hohlkopf«, forderte er Thin Crowe auf. »Aber ein bisschen plötzlich!«

Thin Crowe brachte die Laterne. Kapitän Fry strich den Zettel glatt, hüstelte leicht nervös und las dann, jede Silbe betonend:

»niereh lemmiH ned ssal, ekuL eid enffö,

nies snu nehcsiwz eknarhcS eniek ssaL.«

Septimus und Wolfsjunge warfen einander argwöhnische Blicke zu – und die Crowe-Zwillinge auch. Alle vier erkannten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, einen Umkehrzauberspruch, wenn sie einen hörten. Kapitän Fry wischte sich den Schweiß von der Stirn – er las nur sehr ungern – und brüllte: »Steh nicht so herum, du Schwachkopf, mach die Luke auf!«

Thin Crowe rannte zum Kran und begann, an einer anderen quietschenden Kurbel zu drehen.

Ein paar Minuten später waren die Deckel des Laderaums angehoben, und im Deck klaffte jetzt ein großes dunkles Loch. Septimus und Wolfsjunge tauschten einen Blick – auf diese Gelegenheit hatten sie gewartet.

Kapitän Fry hielt die Laterne hoch und spähte in die Tiefe. Auch die Crowe-Zwillinge wagten einen Blick. Jenna beobachtete die gespenstische Szene aus ihrem Versteck hinter dem aufgerollten Segel. Sie erinnerte sie an Zeichnungen von der Bande der Mitternachtsgrabräuber, die, als sie noch klein war, die Burg in Angst und Schrecken versetzt hatten. Im nächsten Augenblick war alle Ähnlichkeit mit den Grabräubern dahin, und die Szene erinnerte sie nun an die Truppe der fliegenden Affen, die beim Frühlingsfest der Tagundnachtgleiche vor dem Palasttor eine Vorstellung gegeben hatte – nur dass die Affen diesmal größer und hässlicher waren und viel mehr Lärm machten.

Drei dumpfe Schläge später lagen die Affen auf der mächtigen Truhe unten im Laderaum.

»Die hätten wir!«, rief Septimus triumphierend vom Kran herüber, dessen Arm nach unten schwenkte, um die Luke zu schließen.

Unten im Laderaum brachen Kapitän Fry und die Crowe-Zwillinge in einen Schwall von Schimpfwörtern aus, von denen Jenna und Beetle viele noch nie gehört hatten, und sie verstummten erst, als die Lukendeckel wieder fest an ihrem Platz lagen und der Kranarm sie beschwerte.

Septimus und Wolfsjunge hoben ihren Unsichtbarkeitszauber auf und begaben sich mit den anderen zur nächsten Luke, die unter Deck führte. Septimus drückte gegen die kleine Doppeltür, doch wider Erwarten war sie weder verschlossen noch verriegelt. Sie schwang ganz leicht auf, sodass sich alle fragten, warum sich niemand von unten heraufgewagt hatte.

Und so kam es, dass, als die Dämmerung heraufzog und der Himmel sich grüngrau färbte, einer nach dem anderen das leere Deck verließ, hinter Septimus durch die Luke trat und ihm den Niedergang hinunter ins Schiff folgte.

Was, so fragten sich alle mit einem beklemmenden Gefühl, würden sie unten vorfinden?

Septimus Heap 05 - Syren
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